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Guenther Patzig (1926-2018)
In memoriam
Guenther Patzig (1926-2018)
Am 2. Februar 2018 verstarb in Goettingen Guenther Patzig, emeritierter
Lehrstuhlinhaber fuer Philosphie an der Georg-August-Universitaet. Der im
Laufe einer langen wissenschaftlichen Wirksamkeit fuer seine Leistungen
vielfach ausgezeichnete Philosoph und Aristoteles-Spezialist wurde 91
Jahre alt.
Mit ihm ist eine der fuer die deutsche Philosophie in der zweiten Haelfte
des 20. Jahrhunderts praegenden Persoenlichkeiten abgetreten. Sein Name
ist ueber Deutschland und Europa hinaus in der weltumspannenden
Gemeinschaft analytischer Philosophinnen und Philosophen zu einem
bekannten Namen geworden. Freilich, everybody's darling konnte und wollte
Patzig nie sein. Dafuer war es zu sehr sein Projekt, sich vom Ideal einer
Annaeherung an die Wahrheit leiten zu lassen. Vorgefundene Thesen und
Positionen waren ohne Ansehen der Person des jeweiligen Urhebers, ob
historisch oder gegenwaertig, einer kritischen Pruefung am Massstab der
Vernuenftigkeit zu unterwerfen. Schon ein Buchtitel wie Ethik ohne
Metaphysik (1971) konnte auf manchen, dem eine Begruendung moralischer
Ansprueche ohne metaphysisch-religioese Verankerung undenkbar erschien,
wie eine Provokation wirken.
Im Jahre 1926 in Kiel geboren, erlangte Patzig die Hochschulreife an einem
humanistischen Gymnasium in Berlin. Es folgten Kriegsdienst und britische
Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg, von 1945 an, studierte Patzig an den
Universitaeten Goettingen und Hamburg die Faecher Klassische Philologie
und Philosophie, wobei in der Philosophie dieser Student staerker von
Josef Koenig beeinflusst worden sein duerfte als von Nicolai Hartmann.
Hartmann starb bereits 1950.
Patzigs Habilitationsschrift von 1958, Die Aristotelische Syllogistik, ist
dann auch Koenig, der inzwischen von Hamburg nach Goettigen gewechselt war
und Patzig als Assistenten mitgenommen hatte, gewidmet: dem hervorragenden
Lehrer. Eigentlich wurde es von dem jungen Habilitierten, dem der Umgang
mit den fuer die europaeische Philosophie einschlaegigen alten Sprachen
eine Selbstverstaendlichkeit war, so formuliert: "Josef Koenig,
praeceptori praecipuo".
Die Aristotelische Syllogistik, die in mehreren Auflagen und Sprachen
erscheinen sollte, legte den Grundstein fuer Patzigs internationales
Ansehen. Dreissig Jahre spaeter sollte noch einmal mit dem Werk
Aristoteles Metaphysik Z (Text, Uebersetzung und Kommentar, in
Ko-Autorschaft mit Michael Frede, einem Patzig-Schueler der ersten
Generation) ein international beachteter Buchbeitrag zur
Aristoteles-Forschung folgen. In jener schon ausgereiften
Qualifikationsschrift von 1958 ueber die Logik der Anlytica priora verband
der Autor die Faehigkeit zu sorgfaeltiger, altphilologisch geschulter
Textauslegung mit systematischer Kompetenz in moderner Logik --- einer
Logik, von der, wie sich zeigte, die antike Logik so weit nicht entfernt
war, wenn man sie nur in der richtigen Weise zum Sprechen zu bringen
wusste. Dass dabei so manche aeltere, ins Nebuloese abgedriftete
Spekulation ueber die "Vollkommenheit" bestimmter Syllogismen und die
Natur des in ihnen auftretenden "Mittelbegriffs" auf den Boden von
Klarheit und Wahrheit zurueckgeholt werden musste, befindet sich im
Einklang mit einem vom spaeten Patzig fuer sein Philosophieren gewaehlten
Motto. Diesem Motto zufolge kann "Unklarheit Tiefe vorspiegeln" und
"Klarheit eine vorhandene Tiefe geringer erscheinen" lassen, wohl wahr.
Patzig gab stets der Klarheit, soweit sie erreichbar war, den Vorzug.
Als Patzig in Goettingen die ersten Schritte auf dem Weg zu einem
Philosophen von Rang tat, war die deutsche intellektuelle Landschaft ueber
weite Strecken ein philosophisches Brachland. Wichtige Theoretiker des
Faches, durch die in der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Oesterreich
Stroemungen wie der Logische Empirismus oder, inhaltlich dazu
einigermassen kontraer, die Kritische Sozialphilosophie begruendet worden
waren, hatten dem europaeischen Kontinent auf der Flucht vor dem
heraufziehenden Naziunheil den Ruecken gekehrt. Weltanschauungsphilosophie
war aufgrund erwiesener Anfaelligkeit fuer politisch-ideologische
Vereinnahmung nachhaltig diskreditiert. Die auf dem Boden der spaeteren
DDR sich entwickelnde Philosophie konnte aus westlicher Sicht aus eben
diesem Grunde ueberwiegend nicht ernst genommen werden, woran sich bis
1990 auch nicht viel aenderte.
Es war in dieser Situation ein Gluecksfall, dass Patzig zu Beginn der
1950er Jahre in Hamburg bei Koenig mit dem Werk des Jenaer
Mathematiker-Philosophen Gottlob Frege (1848-1925) bekannt gemacht wurde.
Patzig erkannte schnell die Qualitaeten der hier zu hebenden Art von
Philosophie. Durch vorzueglich aufbereitete Texteditionen (exemplarisch:
G. Frege, Logische Untersuchungen, herausgegeben und eingeleitet von
Patzig, 1966 und oefter) sollte er spaeter einen entscheidenden Beitrag
dazu leisten, dass nach Jahrzehnten, in denen Frege im eigenen Lande
weitgehend vergessen war, dieser bedeutende Kopf wenigstens postum in der
deutschen Philosophie eine gewichtige, die ihm angemessene Rolle zu
spielen begann.
Aber nicht nur das. Ueber Freges Werk als Bruecke bahnte Patzig einen
Re-Import nach Deutschland an: die Aneignung einer Art von Philosophie
naemlich, die man hierzulande bald als die "analytische" kannte und
entweder schaetzte oder, heute wohl immer seltener, ablehnte. Diese
Philosophie hatte sich in den Jahren, als Deutschland philosophisch
ausdorrte, besonders in Grossbritannien und den USA etabliert --- unter
dem Einfluss von aus Europa gefluechteten Vertretern des Faches und nicht
zum geringsten Teil im Zuge einer in den Aufnahmelaendern stattfindenden,
produktiven Weiterentwicklung von Themen, die einst durch Frege auf die
wissenschaftliche Tagesordnung gelangt waren. Mit dem Sinn fuer Humor und
heitere Ironie, der auch fuer Patzig bei aller Ernsthaftigkeit in der
philosophischen Sach-Auseinandersetzung charakteristisch war, hat der
Oxford-Mann Michael Dummett die Schluesselrolle Patzigs bei der
Wiederaneignung der Philosophie Freges einmal gewuerdigt, indem er dem
Goettinger den inoffiziellen Ehrentitel "Germany's refregerator" verlieh.
Im Jahre 1963 uebernahm Patzig, nach einer kurzen Zwischenstation auf
einer Professur an der Universitaet Hamburg, den Lehrstuhl seines Lehrers
Josef Koenig in Goettingen. Diesen Lehrstuhl hatte er bis zu seiner
Emeritierung 1991 inne. Zahlreichen Bemuehungen anderer Universitaeten um
seine Person, auch auslaendischer Universitaeten von Wien bis Boston, hat
er nicht nachgegeben. Nicht ungern hat er schmunzelnd den Gedanken
lanciert, dass er schon wegen der Qualitaet einer gewissen in Goettingen
ansaessigen Konditorei den Ort am Leine-Fluss nicht habe verlassen
koennen. Wer je in dem Staedtchen mit der reichen
wissenschaftlich-aufklaererischen Tradition eine laengere Zeit zugebracht
hatte, der wusste, welche Konditorei gemeint war.
Guenther Patzig als Lehrer: Die Verhaeltnisse waren damals in mancher
Hinsicht andere als heute. Das betrifft nicht nur Aeusserlichkeiten wie
den bis in die 1980er Jahre hinein ueblichen Tabakgebrauch in Seminaren;
Tabakgebrauch auch durch Patzig selbst, der mit Freude die Pfeife am
Brennen hielt. Von den fortgeschrittenen Semestern erwartete Patzig
Selbstaendigkeit, und er konnte sie auch erwarten. Gegen Ende eines
Oberseminars ueberliess er es regelmaessig den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern, das Thema fuer das darauffolgende Semester auszuwaehlen ---
wobei er selbst als Teilnehmer gleichfalls Sitz und Stimme in der Sache
hatte. Von Promotionswilligen wurde erwartet, dass sie weniger nach einem
Thema fragten, sondern eher selbstaendig, aus eigenem Interesse, eins
fanden und in die Sprechstunde mitbrachten. Dies hatte die Nebenwirkung,
dass die thematische Spannweite der Projekte, die von Patzig ueber die
Jahre als Promotionsprojekte betreut wurden, ganz erheblich war. Solche
Herausforderungen anzunehmen entsprach ebenso seinem Ethos als
Hochschullehrer wie die Bereitschaft, sich in zahlreichen mit Kollegen aus
anderen Fakultaeten, insbesondere der Medizin, gemeinsam durchgefuehrten
Lehrveranstaltungen dem interdisziplinaeren Dialog zu stellen.
Die Medizin, in der Tat. Von den fruehen 1970er Jahren an wandte sich
Patzig ueber die Themen hinaus, fuer die er bis dahin gestanden hatte und
weiterhin stand, verstaerkt auch anderen philosophischen Gegenstaenden zu.
Manche Studentinnen und Studenten tauschten in dieser Zeit in Vorlesung
oder Seminar zuweilen verwunderte Blicke aus, auch skeptische Blicke:
Hatte man bei ihm nicht, neben Platon, Aristoteles und Kant, vor allem
Logik, Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie kennengelernt? Nun war
der Mann offenbar gewillt, sich auf Ethik einzulassen; zuerst auf
allgemeine, spaeter auch auf spezielle Ethik, unter anderem die
Medizinethik. Der Gedanke war noch gewoehnungsbeduerftig, dass es moeglich
sein koenne, die Behandlung von Fragen der Normen-Geltung mit
wissenschaftlichen Methoden und ohne in Relativismus zu verfallen auf ein
hoeheres Niveau zu heben. Dies hat sich seither gruendlich geaendert, und
auch hierbei war Patzig ein wichtiger Beitraeger und Weichensteller.
Der Ethik-Zweig von Patzigs philosophischem Engagement hatte fuer ihn
nicht den Charakter eines rein akademischen Trockengewaechses. Davon
zeugten in seiner aktiven Zeit vielfaeltige beratende Verbindungen zu
Entscheidungstraegern in Politik und Gesellschaft. Gelegentlich konnte
Patzig seine Studenten auch mit Bemerkungen ueberraschen, die weit ins
Persoenliche hineinreichten: Er finde, dass er auf seiner Professur
eigentlich zu gut bezahlt werde. Wenn einer schon das Glueck habe, von der
Natur mit Gesundheit und Leistungsfaehigkeit ausgestattet worden zu sein,
muesse ihn nicht noch zusaetzlich die Gesellschaft durch Zahlung eines
vergleichsweise hohen Gehalts in besonderem Masse besserstellen. Das ist
vierzig Jahre her. Wir denken an die Gerechtigkeitstheorie des John Rawls
(1921-2002) und an wahrhaftige Verguetungsexzesse in einigen Bereichen der
heutigen Gesellschaft.
Mit Guenther Patzig zu diskutieren, auch politisch zu diskutieren, und in
seinen Lehrveranstaltungen zu sitzen, war eine Freude. Jetzt bleiben uns
seine Texte, von denen viele auch als Gesammelte Schriften in vier
Baenden, 1993 bis 1996, zugaenglich sind; und es bleibt die Zuversicht,
dass seine Schuelerinnen und Schueler die besondere Art des
Philosophierens weitertragen werden, die man bei ihm, dem Koenig-Schueler,
der selbst ein eminenter Lehrer wurde, erlernen konnte. Die 1990 als eine
fruehe gesamtdeutsche Initiative gegruendete Gesellschaft fuer Analytische
Philosophie, deren Ehrenmitglied Patzig war, ist ihm zu bleibendem Dank
verpflichtet. Die ihn kannten, empfinden Trauer ueber den Verlust.
Ulrich Nortmann und Achim Stephan
--
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